Die Machbarkeit der Welt

Die Machbarkeit der Welt

Organizer(s)
Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum / Katholische Akademie "Die Wolfsburg", Mülheim an der Ruhr
Location
Mülheim
Country
Germany
From - Until
27.11.2003 - 29.11.2003
Conf. Website
By
Klaus Lohmann, Bochum

Mit dem Titel "Die Machbarkeit der Welt" veranstaltete das Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum in Kooperation mit der Katholischen Akademie "Die Wolfsburg" vom 27. bis 29. November 2003 in Mülheim eine interdisziplinäre Tagung, deren zentrale Fragestellung die grundsätzliche "Machbarkeit" moderner Gesellschaften fokussierte:
Ist der Gedanke der "Machbarkeit" Ausgangspunkt der neuzeitlichen Wende? Welche Vorstellungen von "Machbarkeit" zeigen mittelalterliche Staats- und Gesellschaftsutopien auf, welche Gestaltungsmacht nehmen die autoritär-ideologischen oder völkisch-faschistischen Gesellschaftsideologien des 20. Jahrhunderts in Anspruch? Lassen sich Kontinuitäten in einem Prozeß der zunehmenden Ablösung aus einer göttlichen Schöpfung und einem als möglich erachteten Eingriff in das geschichtliche Schicksal feststellen? In welcher historischen Kontinuität müssen Entwürfe globaler Weltgesellschaft und einer Politik des "Global Governance" betrachtet werden?

Daß das Institut für Diaspora- und Genozidforschung (IDG) diese allgemeine Fragestellung gewählt hatte, um Gestaltungsentwürfe moderner Gesellschaft und Identität zu thematisieren, verdeutlichte nicht allein die Stellung, die während der Tagung auch den Fragestellungen um Exklusion und Gewalt zukommen sollte.
Mit dem Tagungsthema zeigte sich der Anspruch, den das Institut an seine Arbeit - der Integration einer interdisziplinären Genozidforschung in die deutsche Forschungs- und Bildungslandschaft - stellt: Staatliche Gewalt und Völkermord sind nicht als Eskalationen zu erklären, sondern sie sind als vielschichtige Prozesse und Strukturen verwirklicht, aufgrund unterschiedlicher Motivationen und intendierter Strategien, die insbesondere eine Eigenschaft verbindet: es handelt sich um "konstruktive" Akte, die Gesellschaften gestalten wollen.

Dirk Ansorge (Kath. Akademie Mülheim) orientierte die offenen Fragen seiner Einführung an der Erzählung des "Macht Euch die Erde untertan" (1. Mose 1, 28). Ist dort, wo es heute keinen anderen "Macher" als den Menschen gibt, nur eine Frage an die notwendige ethische Eingrenzung des menschlichen Handelns aufgeworfen? Oder zeigt das Handeln des nun schöpferlosen Menschen auch eine grundsätzlich andere Qualität?

Auch Mihran Dabag (IDG) problematisierte in seiner Einführung den Gestaltungsanspruch. Er machte dabei deutlich, daß sich in der Neuzeit grundsätzlich ein "Überwindungsdenken" zeige, das den Weg ebne zum Denken auch radikaler Brüche im Sinne zivilisatorischer Kontinuität. Sind die totalen Gestaltungsvisionen nationalistischer Bewegungen und die modernen Verfügungen über den menschlichen Körper in der Gentechnologie auf ähnliche Grundmotivationen zurückzuführen?
Willem van Reijen (Utrecht) fragte in seinem Beitrag "Der Entwurf der Moderne: Aufforderung zur Verwirklichung" nach dem Verbleib des Heilsgedankens. Hat sich dort, wo die Moderne grundsätzlich als Machbarkeit gedacht wurde, nicht eine grundsätzliche Auflösung einer Heilserwartung ergeben? Nachdem im 19. Jahrhundert zunächst Enttäuschung zu einer Versöhnung des Immanenten mit dem Transzendenten geführt habe, sei das Sakrale schließlich "implodiert", das Heil invers geworden. Die Rigidität der Machbarkeitsvorstellung sei möglicherweise gerade auf dieses Immanentwerden der Heilsvorstellung zurückzuführen.

Der Vortrag von Lutz Niethammer (Jena) rückte die Entstehung der Idee einer kollektiven Identität in den Blickpunkt. In seinem Beitrag "Die Entstehung moderner Identitätsvorstellungen und das Bild des geschichtsmächtigen Akteurs" zeichnete er die historische Entstehung neuzeitlicher politisch-sozialer Trägergruppen nach (so zum Beispiel des "Dritten Standes"), um die ideengeschichtliche Entstehung des Begriffs der "Kollektiven Identität" (in der Geschichtsphilosophie, Psychologie, Psychoanalyse und Politikwissenschaft) mit den historischen Herausforderungen zu kontrastieren.

Thomas Macho suchte mit einem Exkurs in die Wissenschafts- und Technikgeschichte einen Paradigmenwechsel von einer topographischen zu einer temporalen Ethik zu verdeutlichen, der grundsätzlich veränderte Handlungsrahmungen für den Einzelnen in der Moderne bedingte. Die Überlegungen "Zur Temporalisierung der Ethik im 19. Jahrhundert" machten deutlich, daß Zukunftsplanungen angesichts der temporalisierten Orientierungen nicht mehr an der Frage des Guten ausgerichtet, sondern allein um das Gelingen und Versagen zentriert sind.

Ralf Miggelbrink (Essen) forderte mit einer theologischen Analyse heraus, in deren Mittelpunkt nicht die Figur oder der Name Gottes, sondern der Mensch stand. Dieser sei grundsätzlich "böse", was auch Gott eingesehen habe: dabei weise die Genesis nicht auf eine Resignation Gottes angesichts der Fehler des Menschen hin, aber auf einen spezifischen Realismus. In "Gewaltkritik und Humanisierungspotentiale. Anmerkungen zur Kulturgeschichte des Christentums" analysierte Miggelbrink die Dynamik und die Offenheit christlicher Ethik und verneinte die Grundsätzlichkeit christlicher Gnadenhoffnung.

Mit der Feststellung "Zukunft hat Geschichte" und seinem Eröffnungssatz "Warum über Machbarkeit reden, wir haben genug zu tun mit den Grenzen der Machbarkeit" provozierte Lucian Hölscher (Bochum) mit seinem Vortrag über "Vorstellungen der Gestaltbarkeit von Zukunft seit der frühen Neuzeit" eine Perspektivverschiebung. Hölscher koppelte die Idee der Machbarkeit der Welt an die Entstehung der Vorstellung einer gestaltungsoffenen Zukunft seit der frühen Neuzeit. Den Gedanken der Machbarkeit deutete Hölscher als Signatur einer Säkularen Theologie in der Moderne, deren Grundkategorie das Konzept Zukunft sei.

Maren Lorenz (Hamburg) analysierte in ihrem Beitrag "Der Körper als Symbol und Legitimation. Kritische Überlegungen zum Streit um die Definitionsmacht über 'den Menschen' zwischen Kultur und Naturwissenschaften" die Persistenz anthropologischer Konzepte in den modernern Wissenschaften und verdeutlichte dies anhand der modernen Kognitionswissenschaften, der Bio- und Nanotechnologie oder der Neurophysiologie. Aber auch jüngere Ansätze aus der kulturwissenschaftlichen Soziologie beweisen mit ihrer Integration "triebtheoretischer" Muster eine überraschende Reduzierung von Kollektivstrukturen auf naturgegebene Figurationen. Welche Legitimationsmöglichkeiten eröffnen sich mit den anthropologischen Absicherungen für die modernen Wissenschaften?

Christina von Braun (Berlin) zeichnete in ihrem Vortrag "Der Körper des Fremden" die Geschichte der Metaphorisierung des "sozialen Körpers" durch den "biologischen Körper" nach. Dort, wo Bilder der Gesellschaft beispielsweise als Nervensystem durchgesetzt wurden, gewinnt in der Wahrnehmung auch des modernen Einzelnen die Symbolisierung an Gewicht. An diesem Schlüsselpunkt fragte von Braun nach der Gestalt des Fremden als "Fremdkörper": in Imaginationen erscheine insbesondere der "Sleeper", der sich in den "sozialen Körper" einschleiche und diesen von innen bedrohe. Aber auch die Verweise auf die Säkularisierung des Körpers Christi oder die Diskussion um den Körper der Masse (LeBon) machte die Zentralität der Körperbilder im Selbstverständnis moderner Gesellschaft deutlich.

Raimar Zons (Paderborn) sprach zur "Gestaltbarkeit des Menschen: Vom 'Menschen als Maschine' zum Cyborg" und deutete die Frage der Machbarkeit des Menschen in Humanismus und Posthumanismus als Problem der Selbstunterscheidung: Die Differenz Mensch/Tier sei im technischen Zeitalter durch die Differenz Mensch/Roboter beziehungsweise Mensch/Programm abgelöst worden. Im Kontext der gegenwärtigen Gentechnologien und der Anthropotechnik lasse sich allerdings ein Re-Entry von Natürlichkeit und Künstlichkeit ins Indifferente beobachten. Doch stets stehe die Perfektionierung, die Optimierung im Fokus: der Replikant oder Androide kämpft nicht nur besser als der Mensch, er blutet auch nicht.

Kristin Platt (IDG, Bochum) sprach "Über das Vorübergehende in der Geschichte: Gestaltung, Tod und Vernichtung in der Begründung historischer Kontinuität" und machte die Bezugnahme der nationalsozialistischen Ideologie auf universalgeschichtlich begründete Entwicklungsgesetze und Herders Erklärung des "Vorübergehenden" spezifischer Kulturen deutlich: Treitschke, Dilthey, Hitler und Rosenberg standen im Zentrum ihres detaillierenden Beitrags, der verdeutlichte, an welchen Punkten sich das weltanschauliche Gerüst des Nationalsozialismus in das Wissen der Generation des Ersten Weltkriegs legitimatorisch einzubinden suchte. Dabei standen Ausschnitte aus Hitlers "Mein Kampf" und Rosenbergs "Mythus" im Mittelpunkt.

Richard Saage (Halle-Wittenberg) prüfte im Rahmen einer typologischen Charakterisierung utopischen Denkens anhand der Frage "War Hitler ein Utopist?" einzelne Grundkategorien idealer Gesellschaftsentwürfe. Auch wenn die Antwort auf die gestellte Frage ein überzeugtes "Nein" war, konnten doch Grundbausteine des nationalsozialistischen Ideensystems ausgemacht werden. Im Mittelpunkt standen dabei Charakterisierungen zur "Rolle der Geschichte", zum "Maßstab der Politik", zum "Bild des neuen Menschen" und zu "Transformationsstrategien". Dabei kam Saage zu dem Schluß, daß Hitlers politische Vision, in deren Zentrum die Idee einer "Exekution der Gesetze der Geschichte" stehe, den idealtypischen Vorstellungen utopischer Denker diametral entgegenstehe.

Jochen Hörisch (Mannheim) erörterte, daß der Machbarkeitsbegriff im Schöpfungsbericht der Genesis positiv besetzt sei, wobei "Machbarkeit" grundsätzlich an Medialität gebunden ist, etwa an das "Wort" Gottes. Folglich sei die Theologie eine Medientheorie mit ontosemiologischem Programm, einem Programm, das Sein und Sinn zusammenzuführen versuche. Für die Moderne diagnostizierte Hörisch in seinem Beitrag "Weltkultur, Globalisierung, Mediengesellschaft" eine Autorisierung des Menschen zur Machbarkeit, eine Fetischisierung des "Generierens". Die Postmoderne setze diesen Orientierungen die Konzepte der "Hybridisierung" und des "Dilletantismus" entgegen. Doch stets folge die Sinnzuweisung dem Konstruieren, stets fallen das Konstruieren und das Konstruiertsein zusammen.

Dieter Senghaas (Bremen) oblag aus politikwissenschaftlicher Sicht die Aufgabe der Prüfung internationaler Ordnungen. In seinem Vortrag "Interkulturelle Dialoge angesichts kultureller Globalisierung. Plädoyer für eine Reorientierung" stellte er die Differenzen einer "Globalisierung de Luxe" in den OECD-Ländern und ihrer negativen Folgen in den Entwicklungsgesellschaften heraus. Senghaas prüfte das klassische Konzept der Friedens- und Konfliktforschung, das Muster des interkulturellen Kontakts, und plädierte für seine Gültigkeit auch angesichts transnationaler Entwicklungen. So erörterte er die Notwendigkeit einer Rückbesinnung Europas auf die Schwierigkeiten der eigenen Modernisierung. Ein kritisches Selbstbild Europas sei die wichtigste Bedingung für den Einstieg in den interkulturellen Dialog.

Für die Abschlußdiskussion faßte Kristin Platt die zentralen Aspekte der Beiträge und Diskussionen noch einmal zusammen, und stellte als gemeinsamen Gedanken die Problematisierung der Vorstellungen von Geschichte und Zukunft heraus. Daß Zukunft denken nicht zuletzt bedeutet, Zukunft definieren - was die (homogenisierende, exkludierende) Definition derer, die gestalten sollen, und des von ihnen zu gestaltenden Zieles einschließt -, dies ist eine Dimension der Imagination des Machbaren, die zumeist unberücksichtigt bleibt.

Der intensive Verlauf der Tagung war wesentlich einem kritischen, engagierten Plenum zu danken, so daß insbesondere in den Diskussionen die Relevanz der Fragestellung nachhaltig offenbar wurde.
Dabei machten die Vorträge deutlich, daß man nicht über "Machbarkeit", die Ermächtigung des Einzelnen und die Definition der Verfügbarkeit von Geschichte reden kann, ohne über die jeweiligen Programme zu diskutieren. Dies fordert aber nicht zu einer ideengeschichtlichen Klärung, sondern insbesondere zu einer Analyse der Motivationen auf.

Einige der Beiträge werden mit ergänzenden Artikeln in einer vertiefenden Publikation erscheinen.


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